von Alfred J. Quack
Kurz vor seinem Tod hatte sich der marxistische Historiker Mason folgende Frage vorgelegt: „Whatever happened to Fascism?“ In seinem anschließenden Versuch, diese Fragestellung zu beantworten, beklagte selbiger sich dann über den mangelnden Erkenntnisgehalt zeitgenössischer Faschismustheorien.1 Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Man begegnet dem Terminus „Faschismus“ heutzutage nämlich entweder in einer inflationär entstellten Form, als ein pejoratives Attribut oder als Kampfbegriff. Gleiches gilt in gewisser Weise auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Faschismus. Was der Faschismus tatsächlich gewesen ist und wie er sich überhaupt zum Gegenstand von wissenschaftlichen, politischen, aber auch von lebensweltlichen Debatten2 etablieren konnte, darüber wird in der Regel kaum Auskunft erteilt. Im Übrigen definiert sich eine attributive Zuschreibung dessen, was „faschistisch“ sein soll, zumeist ohnehin bloß ex negativo. So ist nur zu erfahren, was der Faschismus gerade nicht sein soll: Demokratisch, liberal, pluralistisch, usw.
Ich selbst würde freilich lügen, wenn ich behaupte, meine vorangegangene Analyse hätte sowohl Wesen als auch Erscheinung ihres Gegenstandes völlig durchdrungen. Dies ist aber niemals meine Absicht gewesen. Wenn es mir auch nur ansatzweise gelungen ist, den geneigten Leser_innen aufzuzeigen, dass der Faschismus sich nicht einfach mal eben so nebenbei erklären lässt, dass spezifische Interpretationen immer an ihren immanenten Widersprüchen scheitern3, ist bereits eine Menge gewonnen. Halten wir also abschließend fest: Es scheint ein viel bescheideneres Unterfangen zu sein, darzustellen, was der Faschismus gerade nicht war.4
Als ein überzeugter Materialist muss ich freilich darauf insistieren, den Begriff nicht einfach einer Beliebigkeit der Deutung preiszugeben. Eine materialistische Interpretation wird ihren Redegegenstand gerade nicht dergestalt betrachten, dass dessen Explikation stets auf ein catch-all-Konzept hinausläuft. Eine materialistische Faschismusanalyse fragt folglich nicht nur nach den bloßen Erscheinungen, sondern gerade auch nach dem Wesen des Faschismus.
Freilich, andere Interpretationen bemühen sich ebenso genau dies zu tun. Der Unterschied ist jedoch, dass es einer materialistischen Analyse nicht bloß um die simple Darstellung von Kausalitätsketten geht. Um ganz banale Ursache-Wirkungs-Verhältnisse. Eine materialistische Deutung des Faschismus muss immer eine ideologiekritische Analyse sein, sie muss sich ihrem Gegenstand deshalb immer vom Standpunkt einer immanenten Kritik nähern. Das heißt konkret: Sie muss einerseits darüber aufklären, welche Potentiale innerhalb einer gesellschaftlichen Totalität angelegt sein können und wie diese sich konstituieren. Andererseits muss sie auch aufzuzeigen im Stande sein, dass diese spezifischen Potenzialitäten immer von kontingenter Natur sind. Dies gelingt freilich nur, wenn sich der dialektischen Methode bedient wird.5 Demnach geht es einer materialistischen Faschismusanalyse sowohl um die Verschränktheit von Ursache und Wirkung, sowie letztlich darum, wann, wie und warum diese Verschränktheit gewisse Potentiale zutage fördert.
Es geht einer materialistischen Faschismusanalyse also sowohl um die Frage nach den Rahmenbedingungen für eine faschistische Negation: Nach dem selbst generierten und dennoch nicht selbsttätig erkannten, faktisch gar nicht erkennbaren Prozess einer Veräußerlichung seitens der einzelnen gesellschaftlichen Subjekte. Gleichzeitig muss aber auch die als Antwort auf eben diese Verhältnisse erfolgende (Selbst-)zurichtung der Individuen untersucht werden, ausgehend von der Konfrontation mit deren materieller Lebenswirklichkeit, also den ökonomischen Verwertungsimperativen und der abstrakt vermittelten staatlichen und rechtsförmigen Herrschaft.
Eine materialistische Analyse dessen, was als das wirklich faschistische erkannt werden soll, muss folglich aufzeigen, dass der Faschismus zwar immer die Konsequenz von eben diesen Lebensbedingungen war, jedoch nicht notwendigerweise deren kausale Folge. Das er vielmehr immer nur eine Art der regressiven Reaktion auf diese Vorfindlichkeiten gewesen ist. Das er einer falschen, einer pathischen Projektion aufsaß, welche das Bestehende zwar entschieden ablehnte, jedoch nicht in dem Sinne aufhob, dass es auch wirklich beseitigt wurde.
Die Möglichkeit über eine Aufklärung des gesellschaftlich Unbewussten6 ist beim Faschismus nicht nur still gestellt, sondern vielmehr bereits eliminiert: Der Faschismus war folglich immer das Resultat einer ideologischen Verselbständigung des notwendig falschen Bewusstseins. Er wollte die vorgefundene Wirklichkeit zwar aufheben, wie sein voluntaristisches Wesen deutlich zeigt, allerdings ohne etwas von ihren realen Erkenntnisinhalten zu wissen. Er musste demnach aus einer Nicht-Bewusstheit der realen gesellschaftlichen Prozesse resultieren. Folglich konnte er auch immer nur eine negative Aufhebung der gesellschaftlichen Realität sein. Eine Form der Aufhebung jedoch, deren barbarische Konsequenzen uns heutzutage zumindest historisch bewusst sein sollten. Was aber nicht gleichzeitig heißen soll, dass es mit dem Faschismus schon allein deshalb bereits vorbei sei. (mehr…)